„Es sind nur ein paar Schritte zwischen mir und dem was kommt“

Der Titel der Werkserie „Ich mach Dich wach“ kann für das künstlerische Werk von Mirjam Wingender programmatisch verstanden werden. Mirjam Wingender will mit ihren Bildern, Zeichnungen und Collagen Aufmerksamkeit für das nicht alltägliche im Alltag wecken und den Blick auf das vermeintlich Nichtsichtbare lenken. Oftmals verbindet sie unterschiedliche Erzählebenen und wählt untypische und ungewöhnliche Darstellungsweisen. So zeigt sie beispielsweise in ihren Portraits halbverdeckte Gesichter; dicke Haarsträhnen winden sich gefährlich um den Hals der dargestellten Person, lassen nur Augen oder Mund frei, während andere Teile des Gesichts großzügig verborgen bleiben. Ähnlich verhält es sich bei ihrer Bildserie „Luchadores“ und „Komplizen“, bei der Pferdeköpfe durch so genannte, durchaus im Pferdesport gebräuchlichen Lichtschutzmasken nahezu gänzlich verdeckt sind. Die Pferde wirken in der unmittelbaren Reduzierung auf diese Masken verfremdet und unnatürlich. Indem Mirjam Wingender starke Farbkontraste, leuchtende Umrisse und abstrakt-geometrische Hintergründe wählt, wird diese Wirkung verstärkt.

 

Widersprüchlichkeit und Gegensätze, zuweilen auch in Kombination mit Textstellen, werden in dieser Form eingesetzt, um die realistische Malweise zu konterkarieren. Die in klassischer Ölmalerei und mit hoher Präzision herausgearbeiteten Bildmotive verändert Mirjam Wingender derart, dass sie übersteigert und fast surreal anmuten. „Ich fordere den Betrachter heraus, meine Bilder aufmerksam zu betrachten, dabei mache ich es ihm nicht gerade leicht, meine Bildgeschichten auf einen Blick zu verstehen. Indem ich Motive und Textauszüge kombiniere, die in Widerspruch zueinander stehen, entstehen Bilder, die viele Gefühlszustände zur gleichen Zeit ansprechen können.“

 

Mirjam Wingender entwickelt solche „Bildgeschichten“ spontan. Anregungen aus dem unmittelbaren Lebensumfeld als auch die intensive Auseinandersetzung mit anderen Menschen führen zu ihren Themen und gemalten, gezeichneten sowie collagierten Kompositionen, die immer rätselhaft und manchmal auch ironisch erscheinen. Widersprüchlichkeiten sind denn auch ein wesentliches Merkmal ihrer Arbeit: Irritation und Fragen werden evoziert, lassen den Betrachter mit seinen Gedanken, Erinnerungen und Erwartungen zurück. Was bedeutet etwa der Satz „Leg meinen Mut auf eine Münze“? Assoziationen werden wach, Vorstellungen entstehen, Fragen entwickeln sich. Ihre Bilder und Collagen sind Metaphern und Rätsel ganz in der Tradition dadaistischer Kunst, wobei der hintergründige Witz wichtiger Träger kritischer Gedanken sein kann. Gerade die Collage, die erst im Züricher Dadaismus und dann später in Berlin der frühen 1920er Jahre weiterentwickelt wurde, spielt auch bei Mirjam Wingenders Schaffen eine wichtige Rolle. Mit dieser Technik lassen sich Sinnzusammenhänge aufheben und völlig neu zusammensetzen. Durch die zusätzliche Verwendung schablonierter Schrift mit scheinbar sinnfreien Sätzen nimmt sie auch die Idee der Verballhornung und der Lautgedichte des Dadaismus auf, ohne sich direkt auf sie zu beziehen.

 

„Mein Ziel ist es, Störmomente und Irritationen zu schaffen, die das Interesse des Betrachters wecken und ihn auffordern. Sie bieten dabei genügend Assoziationsspielraum ohne ihm meine persönliche Geschichte aufzudrängen“, umschreibt Mirjam Wingender ihre künstlerische Intention. „In der Entstehungsphase eines Bildes gibt es Momente, da erscheint alles leicht und beflügelt mich, als könne ich die Welt neu erfinden. Im nächsten Moment kann das Gefühl der Leichtigkeit einbrechen und so erscheint mir die Malerei wie eine große Hürde, wie ein Berg, den ich nicht zu erklimmen vermag. Ich führe jeden Tag aufs Neue diesen Dialog mit meinen noch unfertigen Bildern. Malerei verläuft nie gradlinig, sie schwingt immer zwischen Leichtigkeit und Schwere. Trotz dieses Wissens, habe ich den stetigen Drang mich auf diesen Kampf einzulassen. Die Erinnerung daran, eine malerische Hürde überwunden zu haben, bestärkt mich, weiterzumachen und mich der Kunst jeden Tag aufs Neue zu widmen.“ Die Verbindung und Anwendung der unterschiedlichen Techniken und Mittel verschaffen ihr dabei einen großen künstlerischen Spielraum, Neues zu entdecken, zu experimentieren und die ausgewählten Motive derart darzustellen, dass nichts so ist, wie es scheint. So entstehen ihre Bildgeschichten, die sowohl in Werkserien als auch als Einzelwerke den Betrachter immer wieder ins Staunen versetzen. Malerische Verfremdungen, modifizierte Kontexte bis hin zu Maskierungen lenken dabei den Blick auf Details, lassen den Blick wandern, suchen, um schließlich auf sich selbst gelenkt zu werden – der Betrachter wird in eine Art geistiges Spiegelkabinett eingeladen, in dem er Rätseln begegnet, um das Staunen (wieder) zu erlernen und eine neue, veränderte Sicht auf die Dinge zu erlangen.

Alexandra Wendorf, M. A.

 

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